Effi Mora

«…and the earth opened, and swallowed up the water and the executioners and the old man.»

14.05.2016

Du, mein Freund, stellst dich gern auf Fensterbänke und schreist hinunter in jeden schläfrigen Innenhof, den du finden kannst, wie furchtbar unverstanden du dich fühlst. Es klingt wie ein alter Güterzug, der zu scharf bremsen musste. Das infernalische Ausmaß deiner Enttäuschung bekommt hin und wieder eine Stimme und diese ist so geladen, so vollgepumpt mit der Energie der Bitterkeit und der Wut, dass man sie leicht für eine poetische halten könnte. Deshalb lassen sich so viele von dir irreführen. Weißt du noch? «Das energetische Potential eines Werkes ist entscheidender als die darin enthaltene Botschaft.». Es spielt keine Rolle, ob (+) oder (-). Ob Liebe oder Hass. Die meisten kaufen dir das ab, weil sie nicht anders können. Sie halten es für Kunst, weil es laut, schrill, böse, abartig, abgründig ist. Alles, nur nicht lahm. Man hört dir zu, weil deine zittrige, dunkle Stimme plastische, hässliche, grafische Bilder erzeugt. Man könnte gar nicht weg hören, selbst wenn man wollte. Es ist eine Art Hypnose. Du verschlingst die, die dir zuhören, saugst ein die, die dich ansehen. Und dann lässt du genüsslich die Finger knacken, atmest tief aus, bindest deine schwarzen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und lehnst dich zurück, wie ein Kater, der gerade einen fetten Fisch gefressen hat. Deine Zuhörer fühlen sich plötzlich todmüde, sie schleppen ihre Spender-Körper raus auf die Straße und sind verwirrt, weil sie hinter dieser grotesken Vorstellung, die du ihnen geboten hast, hinter deiner hingebungsvollen Onanie des eigenen Unglücks, große Kunst vermuten. Was soll das denn sonst gewesen sein? Es war laut, es war beängstigend, es hat niemanden kalt gelassen. Es kann nur Kunst gewesen sein.
Ich bin nicht arrogant. Ich will nur nicht in deiner Nähe sein. Denn das, was du für eine poetische Stimme hältst, und das, was dir da die ganze Zeit zuflüstert, du wärest ein Auserwählter, ein Besonderer — all diese tröstenden Dinge — sind in der Summe nichts anderes als eine banale, plumpe, langweilige, unromantische, von dir selbst mystifizierte Persönlichkeitsstörung, die behandelt gehört, sofern du älter als 32 werden willst. Ich will nicht in deiner Nähe sein, weil ich keine Lust habe, mich in deinen Symptomen wieder zu erkennen. Ich will mich von diesem Sog fern halten, weil ich noch weiß, wie das ist. Ich war schon dort, wo du jetzt bist, es hätte um ein Haar meine Wirbelsäule zu Pulver verrieben. Der Abgrund ist kilometertief. Schwarz. Violett, Tannengrün, Indigoblau. Je tiefer, desto verlockender. Zuerst zeigt er einem nur die Fichten und die Kiefern, verwachsene Sträucher und glatte, kahle Stellen dazwischen. warme Steinterrassen, auf denen man sich ausruhen möchte. Hier und da einsame Hütten mit sanft wehenden, vergilbten Gardinen. Man steigt tiefer, betritt die Hütten, atmet den muffigen Geruch ein, wedelt mit dem schnell zusammengebauten Traumfänger und fängt ein Déjà-vu nach dem anderen, sodass es sich beinah wie zuhause anfühlt. Und mit diesem illusorischen Gepäck steigt man noch tiefer. Es wird immer dunkler, die Tannen immer höher, und bald kommt die Sonne gar nicht mehr durch die dicken, schwarzen Baumkronen. Man versucht sich mit einer verfaulten Wurzel den Weg zu erleuchten und rutscht immer wieder ab, weil die Pfade immer schmaler werden, und jedes Mal, wenn man mit einem Fuß im magnetischen Trichter des Abgrunds hängt und tausende von kleinen Steinen in die Tiefe tritt und sich mit blutigen Fingern an den trockenen Grashalmen festhält, hat man diesen Gedanken, welcher dir, in deinem aktuellen Zustand wohl halbherzig und feige erscheint, aber in Wirklichkeit der einzige rettende ist — «Kann ich noch umkehren?». Nichts ist verlockender als die Schlucht. Alle, die mal dort waren und es wieder nach oben geschafft haben, sehnen sich insgeheim manchmal noch danach, auch wenn sie von dieser Erinnerung Herzrasen und Atemnot bekommen und auf keinen Fall wieder zurück wollen.
Koste es selber aus. Geh bis zum Schluss. Lass dich unterwegs mehrmals umbringen. Und, wenn du ganz unten angekommen bist, wo keine Tiere und keine Vögel mehr sind, sondern nur noch Schlangen und Würmer, dann halte kurz inne, atme den Horror ein und aus und lass ihn für immer los. Doch, wenn du nicht loslassen kannst, dann lege dich zu den Schlangen und zu den Würmern. Sie werden dich nach und nach komplett umwickeln. Bis auf die Augen. Im Herbst wirst du vom Laub bedeckt sein und im Winter vom Schnee, und sobald die Bäume dort, ganz weit oben, endlich kahl sind, siehst du ein winzig kleines Stück Himmel und flüsterst: «Ich kann so nicht leben.» Und die Tannen werden sich lethargisch im Wind wiegen und antworten: «Dann lebe nicht.»

Deshalb, mein Freund, komm mir nicht zu nah. Ich bin eine von denen, die zurück gekehrt sind.

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