Effi Mora

Auf dem Weg zur Sicherheit ist uns die Normalität abhanden gekommen.

25.06.2016

Fallbeschreibung: eine weltoffene, lustige, paar-und-50-jährige Frau ist zu Besuch in Dresden. Bei einem Spaziergang fotografiert sie alles, was sie schön oder interessant findet: Blumen, Wiesen, Hunde, die eisessende Menschen anstarren, eisessende Menschen, die mit ihrem Eis den Fußboden voll topfen, sanierte Hausfassaden, unsanierte Hausfassaden, Tauben, Krähen, Kinder.
Wieder in der Wohnung angekommen, zieht sie die Fotos auf den Laptop, um sie noch einmal auf dem Monitor anzuschauen. Dabei fällt es ihren Gastgebern auf, dass darunter auch einige Fotos von nackten Kindern sind, welche im Springbrunnen baden. Es kommt zu einem Dialog, bei dem offenbar zwei Welten aufeinander prallen. Sinngemäß geht es um «Ich versteh nicht, was daran so schlimm ist, einpaar nacksche Kinder zu fotografieren.» vs. «Ich kann es nicht fassen, dass du das selbst nicht siehst. Ein Wunder, dass dich deren Eltern nicht auf der Stelle zerfleischt haben.». Kognitive Dissonanz auf beiden Seiten. Nennen wir es mal «kulturelle Unterschiede», weil man letzten Endes alles auf die Kultur schieben kann. Um zu verstehen, was hier eigentlich aufeinander prallt, schauen wir uns jede dieser «Welten» genauer an.

1.Welt — Was ist denn schon dabei.

«Kinder sind Menschen im Miniformat. Es sind schon Menschen, aber sie sind noch nicht vollständig entwickelt. Ihnen fehlen noch ganz viele Ressourcen. Sobald sie erwachsen sind, können sie Schweres heben, arbeiten gehen, Entscheidungen treffen, Alkohol trinken, Stress aushalten und so was wie Sexualität haben. Nackte Kinder sind demzufolge nackte Menschen im Miniformat. Und weil diese auch körperlich noch nicht vollständig entwickelt sind, kommen für sie alle eben aufgezählten Dinge nicht in Frage. Im Idealfall. Wenn es warm ist, dürfen Kinder auch mal nackt rum rennen, besonders, wenn sie baden, da muss man nämlich nicht alle fünf Minuten die Kleidung wechseln. Dass diese Kinder dabei angestarrt werden können, ist theoretisch möglich. Aber es sind ja nur Kinder und deshalb «Was soll der Geiz? Was will man denn da anstarren?». Ja, es gibt wohl Menschen, die durch diesen Anblick auf eine deviante Weise aufgewühlt werden, aber die sitzen doch alle im Gefängnis. Sonst sind hier doch alle ganz normal. Ganz normale Menschen hier. Und natürlich dürfen Kinder, die beide Elternteile haben, mit dem Vater allein verreisen. Warum denn auch nicht? Ist ja ihr Vater?! Warum sollte man da Bedenken haben? Töchter werden ja auch von Vätern gebadet und gewickelt. Wie kommt man denn da auf irgendwelche komischen Gedanken? Ist doch absurd!
Normalisiert euch mal!»
2.Welt — So einfach ist das nicht. Man sollte wirklich aufpassen.

«Das war vielleicht früher mal so einfach. Auf dem Dorf ist es möglicherweise immer noch so. Aber es ist nun mal ein schwieriges Thema. Die Medien berichten wöchentlich von ziemlich furchtbaren Dingen. Das bedeutet keineswegs, dass all diese Dinge früher nicht passiert sind. Schon. Es wurde nur nicht thematisiert. Die Boulevardpresse hatte früher anderes Spielzeug. Der sensationsgeile Bürger wurde mit anderem News-Fastfood vollgestopft. Jemand, der seine Kinder nackt der Öffentlichkeit aussetzt, sollte bedenken, wer da draußen alles rum läuft. Und nein. Sie sitzen nicht alle im Gefängnis. Und überhaupt. Was ist mit der Privatsphäre? Heutzutage kann man alles bei FB quasi live mitverfolgen. Von der Geburt eines Kindes bis zu dem Moment, wenn es sich selbst einen Account im sozialen Netzwerk anschafft. Mütter, die ihre Kinder nackt im Brunnen baden lassen, gehen manchmal generell etwas sorglos mit der Privatsphäre um. Wenn sie etwa Tausende von Kinderfotos online stellen und das häufig bei einem öffentlichem Account, oder irgendwelche vermeintlich lustigen Details verraten usw., kreieren sie eine ausführliche Internetpräsenz für Menschen, die noch gar in der Lage sind zu entscheiden, ob sie das wollen oder nicht. All diese Kinder werden bei ihrer Erstanmeldung in der virtuellen Welt möglicherweise ziemlich negativ überrascht sein, wenn sie sehen, dass sie schon längst da sind und zwar als «nackter Pops» mit 50 Likes und 6 Kommentaren. Das ist doch unfair! Denkt doch mal ein bisschen nach!
Normalisiert euch mal!»

Solche Diskussionen sind meistens sehr hitzig und nehmen kein Ende. Beides ist, meiner Meinung nach, ambivalent. Was ist denn normal? Ist eine hysterische Campagne a la «Todesstrafe für Kinderschänder» normal? Wohl kaum. Tötungsgelüste sind es nie. Egal auf welchem Gerechtigkeitstripp man hängen geblieben ist. Oder der Zwang, jedes angezogene Kind, das zufällig auf einem Foto landet, demonstrativ unkenntlich zu machen — normal oder nicht? Aber es ist ja nur ein Kind? Ist nicht eher derjenige unnormal, der dabei komische Assoziationen bekommt?
Ich habe keinen Plan.
Normalisiert euch mal! Jeder für sich.

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