Wertes Tagebuch,
was hier nach Dekadenz und Alkoholismus aussieht, ist nicht all zu weit von der Wahrheit entfernt. Ich stelle immer wieder fest, dass sich die Realität nur im Dauer-Dämmer-Zustand ertragen lässt. Erst recht, wenn man meine Frau Mora als Mitbewohnerin hat. Sie hat neuerdings das Fernsehen für sich entdeckt (wie bei allen ihren Neuentdeckungen wird diese hoffentlich auch spätestens nach wenigen Wochen in die Kategorie «Unzumutbarer Rotz» wandern. Ja ich weiß, ihre Ausdrucksweise ist sehr erlesen. Die Gossensprache wird man ihr nicht mehr abgewöhnen können). Anstatt sich irgendwelche Serien oder pseudo-wissenschaftliche Dokus anzuschauen, so wie alle in unglücklichen Umständen lebenden 30-Jährigen es tun, zieht sie sich, ja was glaubst du, was?? Bayerische Guten-Morgen-Sendungen rein. Sie kann stundenlang in den unechten Ofen starren, der dort im Studio vor sich hin qualmt und aufs glänzende, unechte Obst und zuhören, wie sie sich in ihrem putzigen Dialekt über die Grippe unterhalten. Und sie sieht dabei so friedlich aus, dass man Angst bekommt. Ich kenne meine Verrückte inzwischen sehr gut, ich weiß, dass das Leben bei ihr nicht einfach so dahin plätschern darf. Sie ernährt sich von Drama (wofür sie natürlich nichts kann, das arme Ding) und weil ich ein altruistischer und treuer Gefährte bin, habe ich heute für ein Mikrodrama gesorgt: gerade als eine steinalte Frau aus dem Allgäu im Studio anrief und meine Verrückte sich vor Begeisterung kringelte und versuchte, es nachzusprechen und ihre verrückten Augen wie zwei aktivierte Schweißelektroden funkelten, warf ich mich elegant und zielsicher auf die Fernbedienung und rollte darauf ein wenig hin und her, so tuend, als würde ich meine schlanken Glieder nur in eine bequemere Position zurecht rücken. Aus die Maus. Auf einmal waren keine Menschen aus dem Allgäu mehr im Bild sondern ein schleimiger, sehr stark schwitzender Koch mit Tripplekinn, der die geschmacklichen Vorteile von Nutria erklärte (Die Menschheit ist maßlos gelangweilt und sucht sich immer neue und neue Perversionen. Nutria!? Was, zur Hölle, soll das bitte?!). Meine arme Verrückte hat fast geheult, weil sie ihren kuscheligen bayerischen Sender natürlich nicht wieder gefunden hat. Das lange Suchen hätte auch gar keinen Sinn gehabt, weil die Sendung vorbei gewesen wäre und sie sich wahrscheinlich mit einem Standbild vom Alpsee zufrieden geben müsste, und aus dem hat sie schon mal aus Versehen, live und in 3D, getrunken. Durch die Nase.
Auf bald, Tagebuch. Ich trinke aus und gehe in meinen Wald.
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