Jeni Stepien ist eine junge Frau aus den USA, deren Vater vor 10 Jahren bei einem Raubüberfall erschossen wurde. Das Herz ihres Vaters wurde an den herzinsuffizienten Arthur Thomas gespendet. Seit der erfolgreichen Transplantation waren die beiden in Kontakt und nun — 10 Jahre später — wurde Jeni Stepien von Arthur Thomas zum Altar geführt. Alle haben geheult, Jeni legte ihre Hände auf Arthurs Brust, sie bedankten sich beieinander, und ich war stinksauer auf mich, weil ich auch heulen musste. Unfassbar, dachte ich mir. Das Internet ist voll mit solchen Rührseligkeiten: Menschen, die Tiere retten, Tiere, die Menschen retten, Kinder, die ihre Eltern zum ersten Mal wieder sehen, körperlich Beeinträchtigte, die über die Grenzen ihres Körpers hinauswachsen. Tausende von lebensbejahenden Berichten, Videos, Interviews. Viele davon sind inspirierend, ja. Auf jeden Fall. Aber ich mag es nicht bzw. finde es ein bisschen gefährlich, wie leicht zugänglich die Knöpfe und die Hebel sind, mit denen man bei einem Menschen bestimmte Emotionen hervorrufen kann. On/Off. Einmal drauf drücken — der Patient weint, zweimal drauf drücken — der Patient lacht. Diese Knöpfe waren schon immer da, aber seit der Internetisierung liegen sie völlig unverschlüsselt rum. Jeder, der einen Account hat, kann an seiner target audience Experimente durchführen. Macht man natürlich nicht. Jedenfalls reagiere ich normalerweise nicht so emotional auf derart einfache Botschaften, weil mir der Mechanismus dahinter zu sehr ins Auge springt. Wahrscheinlich war’s das Thema an sich. Und ich hab nachgedacht. Ja, es war das Thema. Das Thema «Vater» und alles, was damit zusammen hängt.
Vor zwei Wochen ist ein anstrengender Stalker trotz Schließanlage mal wieder vor meiner Wohnungstür aufgetaucht. Es folgte die in solchen Fällen übliche, an Hässlichkeit nicht zu übertreffende Szene, mit Tritten gegen die Tür, Gelaber und Geschrei, partieller Taubheit ringsum, Beleidigungen und Forderungen. Was allerdings dieses Mal komplett anders war — war meine Reaktion. Statt panisch im Kreis zu rennen, holte ich Hilfe bei der, in meiner Umgebung so unbeliebten, Staatsgewalt. Tja, was soll ich sagen…Hoch lebe die Staatsgewalt. Ich rief an und eine Viertelstunde später kamen zwei großgewachsene Polizisten, die den anstrengenden, an seinem eigenen Stolz fast erstickenden, Spinner hinaus begleitet haben. Ruhig aber bestimmt. An dieser Stelle sei nochmal erwähnt, dass ich aus einem Land komme, in dem jemand, der bei Sinnen ist, sich auf keinen Fall an die Polizei wendet. Im Gegenteil — den übergriffigen Kobolden versucht man generell lieber aus dem Weg zu gehen. Ja man hört in Deutschland auch so einiges, aber hier sind es trotz allem Beamte, die einer intakten Gesetzgebung unterliegen (So, alle kleinen Jungs, die an dieser Stelle einen niedlichen Wutanfall gekriegt haben, verächtlich schnauben und mit dem Füßchen stampfen, gehen bitte für ein Jahr nach Russland. Danach können wir uns unterhalten, wenn’s da noch aktuell sein sollte. Aber darauf komm ich am Ende nochmal zurück).
Ich kann ja sagen, wie diese Situation sich von innen angefühlt hat. So, als säße ich mit meinem pinkfarbenen Fahrrad im Sandkasten, pfeifend, Däumchen drehend und nichts ahnend, und plötzlich springen pubertierende Fieslinge aus dem Gebüsch, schubsen mich in in den Sand, treten mein pinkfarbenes Fahrrad kaputt, beschimpfen mich mit Vokabeln, die ich noch nie im Leben gehört habe, rotzen und spucken, und gerade, als ich denke, meine Verzweiflung kann kaum größer werden, biegt mein hypothetischer Vater um die Ecke und dieser Vater ist riesengroß, grenzenlos stark und unkaputtbar. Er schwebt durch die Gassen, erhaben und strahlend wie die Mittagssonne. Mit seinen riesigen Händen schnappt er die Fieslinge, schlägt kurz und bündig ihre dummen Köpfe gegeneinander, wirft mich über die eine Schulter und mein demoliertes Fahrrad über die andere und schwebt davon, in Würde und Gelassenheit, die nur ein Mensch ausstrahlen kann, der stark und fair ist. Und ich sitze ganz oben und strecke allen Fieslingen dieser Welt die Zunge raus und bin, genau wie mein Vater, unkaputtbar. Und später, als erwachsene Frau weiß ich es immer noch: so darf man mit mir nicht umgehen. Nein. So — nicht! Hm…Dumm gelaufen. So einen Vater hatte ich nie. Einen ganz ganz anderen hatte ich, aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Jetzt bin ich einfach nur froh, dass ich in einem Land lebe, wo Frauen in solchen Situationen geschützt werden. Wo sie sich nach einem Übergriff nicht anhören müssen: «Na hätteste mal nicht so’nen kurzen Rock angezogen, du Ziege. Darfst hier gleich den Boden wischen, wenn de hier so rumfauchst!»
Deshalb fällt es mir furchtbar schwer, diese ACAB-Rufe und diese ganzen «Scheißbullen»-Ergüsse ernst zu nehmen. Ich weiß im Grunde genommen, was diese Jungs (und Mädels) damit meinen, ja. Macht kann in einem Menschen schnell ziemlich tierische Instinkte freilegen. I know I know. Aber womit ich nicht klar komme, ist, glaub ich, die schnelle Bereitschaft, irgendeinem bösen bösen Mann die Schuld an der eigenen…nun ja, mangelnden Männlichkeit anzuhängen. (Ich ringe hier wirklich nach Vokabeln in unserem kuscheligen, politisch korrekten Europa!). Im Idealfall klärt ein Junge bereits in der Kindheit all diese Fragen mit seinem Vater. Wenn der Vater stark genug ist, um nicht mit seinem kleinen Sohn in irgendeinem krankhaften Wettbewerb zu stehen, sondern ihn auch mal seine Grenzen austesten lässt und viel abfangen kann, wenn der Vater also selbst erwachsen genug ist, um sich von der in dem kleinen Jungen plötzlich erwachenden Männlichkeit nicht verunsichern zu lassen und diese aus Angst platt zu drücken, dann hat dieser Junge größere Chancen, eine normale Entwicklung zu durchlaufen, als seine Altersgenossen mit destruktiven Vätern. Die normal entwickelten Jungs werden zu normal entwickelten Männern, die wiederum mit anderen gleichaltrigen Männern einen gesunden Wettbewerb aushalten können. Sie werden es nicht nötig haben, z. Bsp. mit ihren Frauen zu konkurieren. Und die böse-böse Polizei muss dann auch nicht mehr den eigenen destruktiven Vater verkörpern, an den man so viele Fragen hat. Dann ist man selbst dem Leben und allen im Leben stattfindenden Wettbewerben gewachsen und hat gar keine Zeit, riesige Schuldkonstrukte in der Außenwelt aufzubauschen. Ja, man wird für solchen pubertären Quark einfach keine Zeit haben.
(Nicht so freundlich der Text, ich weiß. Aber oh man, ich kann’s nicht mehr hören!)
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