Effi Mora

by accident

01.03.2018

 

Ich kam etwas später nach Hause als sonst, schon fast im Dunkeln. Ordentlich durchgefroren und nicht besonders in der Lage, klar zu denken. Meine Chefin rief an und sagte, dass man die Malmittel für die Kinder am besten noch heute bestellen sollte, weil je schneller, desto schneller, desto schneller. Wir wollen ja schließlich aufs Land fahren und Schnee malen. «Schaut her, Kinder, der Schnee ist nie nur weiß, er besteht aus mehreren Blaunuancen und je nach Lichteinfall…jahaa, manchmal ist der Schnee auch gelb, und ….jaaaa, den gelben darf man nicht essen, haha, können wir jetzt weiter machen? Und reines Schwarz gibt’s übrigens auch nicht. Wir lernen jetzt mal, die Zonen dazwischen zu malen. Für mich ist es auch nicht leicht, was denkt ihr denn.»

 

Wie auch immer, offenbar klangen meine verworrenen Konzepte für die Stadt irgendwie plausibel, weshalb sie uns ein Paar Münzen rüber warf, und ich also mit dem Gerstaecker-Katalog da saß und Papier-Stifte-Pinsel aussuchte. Eigentlich eine schöne Aufgabe, aber es dauerte ewig, ich konnte mich einfach nicht entscheiden, ob körnig aber dafür kleiner, glatt aber teuerer, Tonzeichenkarton aber gleich 100 Stück, säurefrei aber weiß der Teufel warum, oder aber satiniert aber dann nur 12 Blatt pro Nase. Gerstaecker macht mich irre. Dort findet man bei Wunsch bestimmt auch violette Einhorneier mit typischer Wachteleinmarmorierung.

 

Es wurde immer später, die umliegenden Geschäfte machten eins nach dem anderen zu. In diesem meinem Haushalt hier war, wie immer, kein Kaffee, kein Brot, Nix-zum-Drauflegen, keine Seife, kein Spülmittel, kein Waschmittel, keine Bambusstrumpfhose und keine einzige Handyaufladekarte im Wert von 15 Euro. Was willstn machen, außer den Hund anziehen und über die Brücke zur Altmarktgalerie zittern.
In der Altmarktgalerie muss der Hund immer mit dem Fahrstuhl fahren, weil ihn die fletschenden Zähne der Rolltreppe in irgendeine Art von Ur-Panik versetzen. Ich bin nicht seine echte Mutter, aber als Kind war ich hin und wieder in Sankt Petersburg und habe dort auch immer vor der Rolltreppe vorsichtshalber vierzig Meter Anlauf genommen, es kann also gut möglich sein, dass er das von mir hat.

 

Wir kommen gleich zum existenziellen Teil, ich würde auch sagen — zum extrem unappetitlichen Teil. Es ist noch nicht zu spät, mit dem Lesen aufzuhören.
In der Drogerie war noch alles in Ordnung, bis auf die Tatsache, dass der Hund immer unruhiger wurde. Ich versuchte, vollbepackt mit Waschzeugs so zwischen den Reihen zu balancieren, dass er weder mich, noch irgendein Regal mit der Leine umwickelt. Er quietschte und quengelte, als würde ihn jemand die ganze Zeit beissen. Schlecht erzogen ist der Hund, zweifelsohne. Aber so schlecht nun auch wieder nicht. «Was ist denn nur los mit dir? — da ahnte ich ja noch nicht, welche Lynch-Show mir gleich bevorsteht. Ich band den Hund vor einem Lebensmitteldiscounter an und versprach ihm, schnell wieder zurück zu sein. Mir wurde nämlich auch langsam komisch zumute.

 

Gurken, Champignons, zwei vorgereifete Mangos, Himbeeren, Bananen, Garnelen…ich wühle kurz unten im Sahneregal, stehe auf…und werde fast zurück geworfen von der synästhetischen Heftigkeit — zu viele Sinne gleichzeitig bis zum Äußersten aktiviert, — vor mir steht ein ca. 2 Meter hoher Mensch im roten Skianzug, mit einer Damentasche aus Lackleder, die Strickmütze — nicht richtig über die Stirn gezogen, sondern aufgestellt wie ein Eierwärmer, darunter ein Gesicht, das gleichzeitig hilflos und furchtbar unheimlich, ja sogar jenseitig aussah. Jetzt, da ich zu Hause sitze und das alles aufschreibe, fällt mir auf, dass ich mich an sein Gesicht überhaupt nicht erinnere. Es ist weg. Komplett ausradiert. Als hätte er an dieser Stelle nur einen ovalförmigen Bildschirm gehabt und dieser zeigte jedem, der davor stand ein anderes Bild. Aber es war auch nicht sein Gesicht, es war der Geruch.
 

Ich kenne hier die meisten Obdachlosen, manche sehe ich öfter, andere wiederum nur einmal im Jahr, aber wenn man die Angewohnheit hat, wie irre durch die Stadt zu streunen und sich alles genauer anzuschauen, dann kennt man nach 14 Jahren in Dresden eben auch die Dresdner Obdachlosen. Natürlich riechen sie auch, diejenigen, die trinken — in der Regel etwas stärker, weil sie seltener bis nie duschen und Kleidung wechseln. Für viele ist es keine Option, hier darf man den Hund nicht mitnehmen, dort darf man nicht saufen, nicht so einfach alles. Aber einer von den Obdachlosen war der Mann eben nicht. Er roch so, dass mir Tränen in die Augen schossen. So riecht niemand, der auf der Strasse lebt, so riecht auch kein Alkoholiker und kein Messi. So riecht jemand, der 14 Jahre lang in seiner Wohnung auf einem Stuhl saß und nichts sagte, ab und zu eine Lieferung Tütensuppen entgegennahm, manchmal in die Ecke kotzte und vergaß, es wegzumachen.

So wie es bei dem Schnee die Nuancen dazwischen gibt, gibt es auch zwischen «Mieter» und «Obdachloser» diese ganzen, aus der Zeit herausgelösten, in sich selbst verlorenen Grauzonen. So jemand schafft es, Jahre lang seine Wohnung nicht zu verlassen und deshalb sieht man ihn nie auf der Strasse, deshalb kennt man ihn nicht mal vom Sehen. Und dann, einen Tag vor Vollmond, geht er zu einer der Kisten, die vor 14 Jahren hätten ausgepackt werden sollen, holt die Kleidungsstücke raus, die ganz oben liegen und findet sie gut genug für einen Spaziergang. Ist es nicht egal? Der Körper ist eine Illusion. Das wusste ich schon als Kind. Man kann 14 Jahre auf einem Stuhl in der Mitte des Zimmers sitzen und dabei woanders sein, man kann mit dem Gesicht im Matsch liegen und sich die Nieren wegprügeln lassen und dabei woanders sein, man kann ALLES über sich ergehen lassen, wenn man sein körperliches Selbst nicht allzu wichtig nimmt. Macht, was ihr wollt, was hier passiert, betrifft mich in kleinster Weise, ich bin ja woanders. Alle überlistet, das Selbst in Sicherheit gebracht. Weggeträumt. Träumatisiert. Aber weiter leben.

Ich ließ alles, was ich in den Händen hatte ins Regal fallen, rannte an der Kasse vorbei, setzte mich auf den Boden zu meinem Hund, vergrub meine Nase in seinem Fell und heulte fast. Das Leben stinkt auch, aber es ist der Gestank der Vitalität. Und das andere ist Thanatos, in einem Ausmaß, in dem die Grenze des Erträglichen für mich deutlich überschritten ist. Ich will ja noch nicht weg, sonst wäre ich es schon längst. Gelegenheiten gab’s ja mehr als genug.

Comments
Add your comment

Replay

Your email address will not be published

Thank you! Your submission has been received!

Oops! Something went wrong while submitting the form

Blog tags:

AchtsamkeitAgnes&OlgaAus dem Tagebuch von Benedikt-Zachary Maria von Chuchleder lange Weg nach HauseFräulein PrimelFreundschaftgagajeden Monatkopfloses InterpretierenKUNST (das ist mir zu 'art)LiebelifeLiteraturMäääähMonsieur HundMyDresdenNewspersönliche Grenzenpostdramatische AltlastenstörungTierweltTraumaWunderlandzwischen den Welten View all tags