Effi Mora

«Fühlen» — die Königsdisziplin

02.11.2015

Vorgestern ist dieses Flugzeug abgestürzt. Scharm asch-Schaich (Ägypten) — St. Petersburg (Russland), 224 Passagiere an Bord, darunter mindestens 17 Kinder.
Was fühlen Sie, wenn Sie das lesen? Eine taktlose Frage, nicht wahr? Ich komme noch darauf zurück.
Der 31.Oktober wird in Russland logischerweise zum offiziellen Trauertag ernannt, viele Kneipen entschuldigen sich bei ihren Gästen und sagen die geplanten Halloween-Parties ab. Der Eine oder Andere liest sich zum fünften Mal die Liste der Namen durch, Niemand aus dem Freundeskreis, Gott sei Dank, aber diese Zeilen, wo derselbe Nachname dreimal hintereinander kommt: Vater, Mutter, Kind — grausam…In Kiew gehen die Menschen zur russischen Botschaft, legen Blumen hin, zünden Kerzen an. Es sieht nicht gut aus zwischen Ukraine und Russland, gar nicht gut, ziemlich beschissen sieht es aus. Diese Gesten sollen signalisieren, dass das Phänomen Mitgefühl universell und unzerstörbar ist und ganz weit über dem widerlichen politischen Gewusel steht. Alles irgendwie logisch, alles irgendwie menschlich…
Und vor dieser Kulisse der Katastrophe und der gesunden Reaktionen darauf spielt sich eine total groteske Scheisse ab. Und nein, ich rede nicht von den adrenalintrunkenen Clowns, die eine Hassmeldung nach der anderen posten und Freudentänze aufführen, weil 224 Russen umgekommen sind. Dass diese sich so benehmen war wirklich zu erwarten.
Ich meine einige von den so genannten Intellektuellen, die es sicherlich auch immer noch sind, aber aus irgendwelchen Gründen zur Zeit ziemlich «ausrutschen» und «entgleisen». Es sind Menschen, deren fb-Statusmeldungen ich vor einer Weile abonniert habe, aus Sehnsucht nach meiner Muttersprache und weil sie eben so herrlich normal, teilweise sarkastisch, aber doch recht objektiv und nicht hysterisch waren. Diese Menschen schreiben fesselnde Texte und sind wahrscheinlich gut, sie versuchen zumindest die gemeinnützigen Fonds und Organisationen zu unterstützen, die in Russland mittlerweile wie Pilze nach dem Regen aus dem Boden schiessen und sich um Angelegenheiten kümmern, die eigentlich der Staat erledigen sollte — Kinderschutz, Hospiz-Betreueung, Tierschutz, Adoptionen, bessere Lebensbedingungen für ältere und/oder behinderte Menschen. Diese wirklich, wirklich (daran habe ich keinen Zweifel) intelligenten Menschen hatten sich z. Bsp. zur ukrainisch-russischen Krise auf eine Weise geäußert, die mir als einzig konstruktive erscheint — sachlich, mit Bedauern, aber eben sachlich. Das fand ich sympathisch. Die Texte, die einige von ihnen in den vergangenen Stunden wohl in einem fiebrig-graphomanischen Anfall verfasst haben, lassen den Leser nach Luft schnappen. Es sind…nun ja, Phantasien zum Thema «Die letzten Minuten an Bord eines abstürzenden Flugzeugs». Man findet dort die Flugbahn und die anfangs noch fröhlichen Stimmen der müden Urlauber, das behagliche Flüstern der Flugbegleiterinnen hinter dem Vorhang, die unruhigen Säuglinge, denen beim Start die Ohren weh tun, die routiniert ausgepackten Smartphones mit Kopfhörern, die in Schlafposition gebrachten Sitze, ja sogar den verdammten Tomatensaft. So viel zum ersten Teil. Den zweite Teil — die Minuten unmittelbar vor dem Ende — lasse ich einfach weg. Das kann man sich nicht durchlesen. Eben, weil diese Menschen eigentlich gut schreiben können und weil sie sich offenbar der Macht eines geschrieben Wortes nicht bewusst sind. Aber vor allem, weil… Wozu, zur Hölle? Was ist das für eine besonders erlesene Perversion, solche Details wie einen Schmetterling auf ein weisses Blatt Papier zu legen und ihm durch die Lupe beim Agonisieren zuzusehen? Warum? Was ist das? Was soll das?
Die Sache mit den Motiven anderer Menschen ist schon so eine Art magische Kugel — man kann sie natürlich befragen, aber es sind ja doch nur Mutmaßungen. Ich mutmaße hiermit, dass diese plötzliche Thanatos-Onanie auf dem Wunsch basiert, überhaupt irgendwas zu fühlen. Zum Einen werden wir seit Jahren so zugekleistert mit den krassesten Nachrichten, die uns selbst dann verfolgen, wenn wir ganz strickt Fernsehen und Radio ablehnen, (nach so einer Desensibilisierungsmaßnahme dürfte man tatsächlich ziemlich abgestumpft sein), zum Anderen hat das Ganze irgendwie was Dissoziatives — man will es fühlen, aber man kann nicht. Als würde man ständig die Hand nach Etwas ausstrecken und IMMER fünf Zentimeter daneben greifen, als wäre man in der vollen Blüte seines Lebens blind geworden und noch ganz genau wüsste, wie es ist, sehen zu können und deshalb wie eine irre Marionette mit den Händen fuchtelt und voller Wut versucht, die Dunkelheit zu zerreissen, aber diese ist so dicht wie eine LKW-Plane. Es geht einfach nicht. So ist das mit dem Fühlen und dem Dissoziieren. Eine verdammt robuste LKW-Plane. Und man braucht schon ganz ausführliche, möglichst krasse Details, um überhaupt den zu Tode stimulierten Nerv wach zu reizen.
̶A̶l̶s̶o̶,̶ ̶w̶a̶s̶ ̶f̶ü̶h̶l̶e̶n̶ ̶S̶i̶e̶,̶ ̶w̶e̶n̶n̶ ̶S̶i̶e̶ ̶v̶o̶n̶ ̶s̶o̶l̶c̶h̶e̶n̶ ̶K̶a̶t̶a̶s̶t̶r̶o̶p̶h̶e̶n̶ ̶l̶e̶s̶e̶n̶?̶ ̶

Anders kann ich mir das nicht erklären…sind ja wirklich alles ganz kluge, «unentzündete» Menschen…

Für die Toten zündet man in Russland eine gerade Anzahl an Kerzen an. Es sind vier hier in meiner Küche und sie brennen seit gestern fast ununterbrochen. Ich fühle nichts, aber ich hab da so’ ne Ahnung, was ich fühlen würde. Mögen sie in Frieden ruhen.

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