Effi Mora

Innere Kinder, innere Rotzgören, ewige Opferrollen. Und natürlich unsere gute, alte Freundin — die böse, böse Gesellschaft.

07.03.2016

Wenn man eher aufmerksam als unaufmerksam ist und genauer hinschaut, sieht man in absolut jedem Menschen sein inneres Kind (mindestens eins). Hmm…Etwa auch in den gegelten, bekrawatteten, aalglatten Topmanagern? Gerade in ihnen! Wenn so ein supereffektiver Leistungsfanatiker nämlich kurz nicht aufpasst, seine Zigarette weg legt und zur Seite blickt, dann fliegt so ein leichter Schatten über sein Gesicht. Aus der Gelfrisur rutscht eine Strähne und legt sich über die hohe Computerstirn. In diesem Moment, in diesen 2,5 Sekunden, in denen er sich nicht wie ein Wahnsinniger kotrolliert, sieht man den kleinen Jungen, der…ihr wisst schon — «Du hast mit mir gefälligst nicht rum zu diskutieren, du Rotznase!» und «Wie bist denn du drauf? Ab in dein Zimmer und komm erst wieder, wenn du dich beherrschen kannst!» und ganz besonders «Sag mal, was malst denn du mir hier Bilder von irgendwelchen Vögeln, wenn du deine Mathe-Hausaufgaben noch gar nicht angerührt hast?! Bei dir piept’s wohl?». Und dann fühlt man kurz dieses: ach komm zu Mama. Doch schon zieht er beherzt an seiner Kippe und klopft mit den knochigen Spinnenfingern ungeduldig auf den Tisch und grinst wie der Teufel persönlich: «Hopp hopp, Fräulein, wir wollen fertig werden!». Zack, hat er sein inneres Kind zurück gepfiffen.
Ja, auch bei der komischen Tante aus dem 9. Stock, die nie grüßt und stattdessen knurrt und meckert, auch da sieht man, wenn man hinschaut, ein arg unglückliches inneres Kind.
Bei Menschen mit einem traumatisierenden Background braucht man oft erst recht keine optischen Vergrößerungsgläser. Ihre inneren Kinder sind entweder komplett mundtot im Keller oder aber (und das kommt, laut meiner Beobachtung, verdammt häufig vor) permanent draußen — manchmal als Schutzschild und manchmal, weil der Punkt überschritten ist, ab dem sie sich nicht mehr zurück pfeifen lassen. Ein Traumatiker trägt quasi immer eine große, sperrige Glasscheibe mit sich herum, mit der er ständig überall aneckt und dagegen läuft, und manchmal rennt jemand rein, dann klirrt’s und scheppert’s und alles wird auf einmal ganz schwer und dunkel und keiner versteht, woher plötzlich dieses Gewitter kommt, wo sie doch Sonnenschein durchgesagt hatten.
Das alles bedeutet keineswegs, dass alle inneren Kinder sympathisch sind. Ganz und gar nicht. Manche sind sogar richtig scheiße. Es hilft einem zwar, freundlich und sachlich zu bleiben, wenn man weiß, dass der nervtötende, anklagende Quälgeist gerade gar nicht selbst mit einem spricht, sondern sein inneres Kind nach vorn geschubst hat, z. Bsp, weil man bei ihm unbewusst irgendeine wunde Stelle erwischt hat, und wenn er genug davon hat und wieder in seinen Körper zurück kehrt, kann man die Sache vielleicht sogar erwachsen klären, aber so wie es unter den Hunden durchaus nicht sozialisierbare Arschgeigen gibt, so gibt es auch unter den ganzen inneren Kindern die, mit denen man einfach nichts zu tun haben möchte. Klingt erstmal ganz schön hart, was? Möchte man einen, biologisch gesehen, erwachsenen Menschen wirklich immer wieder einlullen und trösten und beschwichtigen? Das macht man vielleicht zweimal, dreimal, sechsmal, zwanzigmal wenn man Ressourcen hat, aber wenn man kein Therapeut ist und auch kein Mensch mit einem erhöhten Bestätigungsbedürfnis im Sinne von «Gebraucht-Werden», fragt man sich früher oder später, ob der/die Kleine vielleicht endlich mal den kompetenten Anteil holen könnte, es wird nämlich langsam zu viel. Hat man wirklich die Kraft, einen sadistischen Teenager, der Mäuse anzündet und bei seiner Oma Geld klaut, endlos zu bemitleiden? Klar, am Anfang sieht man nur die Ursachen — ein stundenlang schreiender Säugling in einem abgedunkelten Raum, Eltern besoffen im Nebenzimmer, kaum Hygiene. Zuwendung? Was ist das bitte? Aber, wenn dieser Typ einem mit Mitte vierzig immer noch so kommt, obwohl er längst selbst die Wahl hat, dann kann man als Normalsterblicher nicht mehr viel machen, außer ihn an die Profis in Sachen Psyche zu übergeben.
Das sind natürlich Extremfälle. Und am anderen Ende der Skala hocken die stummen Asketischen, die man als irgendwie chronisch eingeschüchtert erlebt, und die Selbstständigen, die Pseudoautonomen. Die, die es sich nicht erklären können, warum sich jemand mit ihnen befassen wollen sollte? Will der was? Will der mir an die Wäsche? Will der, dass ich von ihm abhängig werde? Ich mach lieber die Fliege. Sie pflegen eifrig ihren Ruf als unfreundliche, bedrückte, kauzige und sogar zynische Artgenossen. Ihr Ruf soll ihnen wie eine überlange vergiftete Lanze voraus eilen, damit niemand auf die Idee kommt, grenzüberschreitend zu werden.
Und dazwischen — die ganze Vielfalt eben: eine kleine Petze gefangen im Körper einer dreifachen Mutter, ein Dreijähriger Diplomchemiker mit einem merkwürdig unzeitgemäßen Neid-Problem, ein Paar-und-Dreißigjähriger, dem schon sehr früh verdeutlicht wurde, dass er die Sonne ist, um die sich Menschlein und Gestirne drehen, mit empört aufgerissenen Augen und keine Verschmähungen duldend, eine ganze Palette niedlich-trauriger oder niedlich-tollpatschiger Grundschulkids, all die Netten und Lieben, die rührend Verantwortungsbewussten, die in der Nase Popelnden, sobald keiner zuguckt, diejenigen, die nach der Arbeit Trickfilme schauen und mit einem Glas Nutella in der Hand auf der Couch einschlafen. Meine neuste Lieblingsbeschäftigung — so lange hinsehen, bis zumindest die Konturen erkennbar werden.
Was wollte ich jetzt eigentlich mit den Opferrollen…Ach so, ja! Hat man also im Alltag mit Menschen zu tun, die etwas zu vehement um ihren Platz unter der Sonne kämpfen, die sich überdurchschnittlich oft mit anderen vergleichen, die es nicht dem Zufall überlassen, von anderen geliebt, gemocht, respektiert oder bewundert zu werden, sondern sich den ganzen Pipifax und Firlefanz einfach selbst holen, wenn’s sein muss mit Gewalt — kann man eigentlich getrost annehmen, dass man Kinder vor sich hat, die nicht genug bekommen haben. Irgendwann, irgendwo gab’s in ihrer Entwicklung eine Zeit, in der sie gelernt haben, schnell zuzugreifen, bevor’s weg ist. Sie konnten es sich damals nicht leisten, ihrer Umgebung zu vertrauen und einfach davon auszugehen, dass es schon irgendwie für alle reichen wird, und sie können bzw. wollen es sich immer noch nicht leisten, z.Bsp in einem anderen Menschen Gefühle erst wachsen zu lassen. Das dauert doch viel zu lange bis der sich ausgekäst hat. Ich hab den jetzt ausgesucht, ich will den jetzt haben. Ach nix Subjekt, nix eigenes Leben, nix Gefühle sind freiwillig und können nicht erzwungen werden. Komm mir nicht mit Grenzen. Ich nehme den/die jetzt einfach und dann fügt sich schon alles irgendwie. Klingt doch eigentlich sehr aktiv? Wo passt denn hier die Opferrolle dazu? Ganz einfach — ist man nicht in der Lage, die Eigenständigkeit des jeweiligen Ausgesuchten anzuerkennen, ist man automatisch gezwungen, eine Enttäuschung nach der anderen einzustecken, kann die Situation nicht positiv beeinflussen und gibt somit komplett die Kontrolle ab. Bei SM-Pärchen funktioniert das ganz gut, denn die Degradierung eines der Partner zum Objekt ist dort erwünscht. Ansonsten macht das Niemand auf Dauer mit, denn alle, wirklich alle, nein, keine Ausnahmen, alle wollen ernst genommen werden, ja mit ihren ach so lächerlichen Lächerlichkeiten, mit ihren unbedeutenden Wehwehchen und vermeintlich erfundenen Komplexchen. Es sind nämlich wiederum ihre inneren Kinder, die für ihr Recht auf Lächerlichkeiten, Wehwehchen und Komplexchen reflexartig in den Kampf ziehen. Und dann steht dieses enttäuschte Kind da, das eben noch scheinbar aktiv handelte und von der geizigen, feindseligen Welt seine ihm zustehenden Bonbons einforderte, und versteht gar nichts mehr. Wie konnte das passieren? Warum machen die das? Blöde Gesellschaft! Blöde Menschen, die nicht kooperieren wollen, blöde äußere Umstände! Niemand will so wie ich will. Ein sonst erwachsener Mensch besteht in so einem Moment der leider sehr logischen Enttäuschung komplett aus einem riesigen, ungestillten und möglicherweise unstillbaren Bedürfnis. Das Kind in ihm reißt ganz weit den Mund auf und brüllt. Keine Spur von Kontrolle. Die Anderen sollen kommen und gefälligst alles wieder in Ordnung bringen. Die Gesellschaft soll mal besser werden. Die Freunde sollen mal wahrer sein, wahre Freunde machen nämlich dies und das und die, die das nicht machen, sind keine wahren Freunde. Das Objekt der Begierde soll sich mal endlich um die Misere kümmern, die es mit seiner Eigenständigkeit angerichtet hat. Riesige Schuldkonstrukte werden in der Außenwelt wie Hologramme aufgebaut und angeklagt. Es kann nicht sein, dass jemand, der nicht wollte, wie sie wollten, in seiner Andersartigkeit und mit seinen Bedürfnissen genau so ok ist wie sie selbst. Denn dann gibt’s ja keinen Verantwortlichen mehr. Und wenn es keinen Verantwortlichen von außen gibt, dann… Hilfe! Ist man womöglich selbst dafür verantwortlich, dass sich eine unangenehme Situation ständig wiederholt?

Ich hab keine Ahnung, was die Lösung ist. Vielleicht einfach begreifen, was für eine evolutionäre Sackgasse so eine Lebenseinstellung darstellt…Im Zweifelsfall ist es immer gut, erstmal in die eigenen Grenzen zurück zu kehren. Wenn man es nämlich schafft, innerhalb seiner Grenzen zu bleiben und dennoch aktiv zu sein, ist man automatisch weniger abhängig von anderen Menschen und den sich plötzlich ändernden Umständen. Je eher man es schafft, den Anderen ihre erschreckende Andersartigkeit zu gönnen, desto geringer wird auch der Zwang, Schuldkonstrukte aufzubauen. Es ist dann einfach nicht mehr nötig. Dann heißt es: Du bist ok, Ich bin ok, jeder in seinen Grenzen, entweder zusammen oder getrennt, aber auf jeden Fall auf einem Weg, der weiter führt. Schuldzuweisungen führen unweigerlich zur Stagnation.

P.S. zum Thema böse, böse Gesellschaft, überall Feinde, Diskriminierung, keine Wärme, kein Verständnis — sorry, gerade in Deutschland gibt’s alle fünf Meter Hilfe. Für jeden Popel gibt es speziell ausgebildete Fachkräfte, gemeinnützige Vereine, spitzenmäßige medizinische Versorgung. Man braucht nur die Hand auszustrecken. Erst gestern sprach ich darüber mit einer Freundin und wir einigten uns darauf, dass wenn jemand genug Kraft hat, ganz viel rum zu klagen, dann hat er noch Ressourcen. In echten Krisen läuft nämlich alles auf Sparflamme.

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