Ich sehe sie an und höre sie Sätze sagen wie «Ach, Trauma…was ist schon Trauma? Wie haben das denn die Frauen im Krieg gemacht? Sie hatten keine Zeit zum Kranksein. Konnten sich nicht so gehen lassen. Wir haben zu viel Zeit zum Grübeln. Uns geht’s doch viel zu gut.». Ihre Körpersprache verrät, dass sie selbst nicht so recht glaubt, was sie da sagt. Es ist die Körpersprache einer Frau, die seit sehr vielen Jahren versucht, klar zu kommen. In ihren Mundwinkeln — die gut trainierte Verleugnung der eigenen Bedürftigkeit. Nein, für Trauma hat sie auch keine Zeit. Sie steht um sechs auf. Ihr Mann ist schon wach und kehrt draußen den Platz vor der Garage, in der Küche röchelt die alte Kaffeemaschine. Sie duscht, wie ein Soldat, jede Bewegung ist auf die Sekunde abgestimmt. Versucht dabei, ihren Körper auszublenden, als wäre er nur Schaum und Dampf und wischt die beschlagenen Spiegel erst als sie vollständig angezogen ist. Ihr jüngster Sohn geht noch zur Schule und poltert, wie jeden Morgen, die Treppe runter. Er hat schlechte Laune und einen Fleck auf dem T-Shirt. Während er sich hastig ein Toastbrot schmiert, geht sie nach oben und holt aus seiner Kommode ein sauberes Hemd. Diese unbehagliche Unruhe und ein für so eine große Familie etwas zu kühler Ton fügen sich harmonisch in ihre eigene Depressivität. Was anderes könnte sie gar nicht ertragen. Für Freundlichkeit und gute Mienen fehlt ihr die Kraft. Seit Jahrzehnten macht sie jeden Morgen die Augen auf und fragt sich, wie lange das alles noch so weiter gehen soll. Der Moment des Aufwachens ist für einen depressiven Menschen eine ziemlich dunkle Angelegenheit, leider gibt es dazu keine Alternativen. Wäre sie allein, so denkt sie oft, hätte sie schon längst…Die Art von Gedanken eben, ein Ergebnis der inneren Zerrissenheit und des starken Bedürfnisses, irgendeine wacklige Ordnung aufrechtzuerhalten. Wenn diese Ordnung die Form eines großen Hauses, in dem es immer etwas zu tun gibt, und fünf Kindern annimmt, so ist es nur dem Zufall zu verdanken. Es hätte schließlich auch eine Karriere werden können, die einen lange nicht mehr erfreut, sondern nur noch saugt, und saugt, und saugt und die man dennoch, wie einen ungeliebten Kranken pflegt, nur um nicht mit den eigenen Gedanken und Bildern allein sein zu müssen. Sie lenkt sich ab. Versorgt die Tiere, macht Bürokram, öffnet alle Schränke und Kommoden, reißt die saubere Wäsche aus ihrem dämmrigen Schlaf — vergilbte Bettlaken, karierte Kissenbezüge, altmodische Pullover, irgendwelche meterlangen Stoffe, von denen Niemand mehr weiß, warum sie hier sind — und wäscht sie noch einmal; reinigt die Möbel von innen, lüftet die Räume. An den Wochenenden kommen ihre zwei Töchter, die mit ihren Familien in der anderen Haushälfte wohnen, und die zwei älteren Söhne von außerhalb zum Mittagessen. Natürlich befolgt sie all diese aufwändigen kulinarischen Rituale, so wie es ihre Mutter und ihre Großmutter schon getan haben. Solche Rituale haben eine essentiell wichtige Bedeutung. Aber nicht etwa, weil es sich so gehört, nein. Sie mildern tatsächlich die kaum zu ertragende Einsamkeit, mit der wir, unabhängig vom Trauma, für das Mysterium des Lebens bezahlen. Wir sind einsam, weil wir als so genannte soziale Wesen geschaffen wurden, jedoch unser Leben lang in unser weichstes Inneres gepikst werden von der Erkenntnis, dass es absolut Niemanden gibt, der auch nur für einen Bruchteil der Sekunde die Dinge genau so sehen könnte wie wir selbst. Wenn wir klein sind, sagen wir zu unserer besten Freundin, sie soll mit auf unserem Kissen schlafen, damit sie den selben Traum sehen kann, wir sind noch optimistisch und glauben tatsächlich, wir können ihr diese ganzen türkisfarbenen Räume mit den vielen Perücken und schwarz-roten, auf Hochglanz polierten Äpfeln und die winzig kleinen Züge, mit denen wir an riesigen, mit Efeu berankten Mauern fahren, zeigen, dass sie da einfach so hinein gehen kann. Später, in der Pubertät fühlen wir uns von der ganzen Welt verstoßen, außer von diesem einen ganz speziellen Menschen, mit dem wir im muffigen Treppenhaus sitzen. Dann schneiden wir uns in die Handflächen und pressen diese aneinander als Zeichen unserer geheimen Vereinigung. Du bist genau wie ich — denkt sich jeder — du kannst das alles auch sehen, und zwar ohne jegliche Verzerrung. Was im ersten Moment nach der kitschigen hormonellen Ursuppe klingt, die für den pubertären Maximalismus sorgt, ist vermutlich vielschichtiger. In der Pubertät tun wir seltsame Dinge, aber nur, weil uns unsere apokalyptische Einsamkeit so gnadenlos bewusst wird, dass sie uns mit Tausend Scherben um die Ohren fliegt. Der Wunsch nach Vereinigung war schon immer da. Wir schleppen ihn aus einem Leben ins nächste, unterwegs wird er mal blasser, mal greller, ändert seine Form und Intensität und wird hin und wieder durch besonders prägende Begegnungen sogar gestillt, aber niemals ausgelöscht. Wenn sie für ihre große Familie Mittagessen kocht, so geschieht es nicht aus dem Pflichtbewusstsein heraus, obwohl sie sich wohl gern dahinter versteckt, sondern weil dieses Schnippeln und Reiben, Schneiden und Würzen, diese knirschenden Salzkörner und dieser Pfeffer in der Luft, dieses Spektakel der Heimeligkeit in erster Linie unglaublich beruhigend sind. Dieses Schmerzmittel wird nicht umsonst seit jeher bei solchen Katastrophen wie dem Tod eines Familienmitglieds verabreicht. Ein Leichenschmaus an sich dient natürlich dazu, dass die Verbliebenen noch einmal zusammen sitzen und ein Paar nette Worte finden. Aber vor allem geht es um die Zubereitung. Diese erste Nacht, ohne den Verstorbenen, in der einem auch noch die eigene Sterblichkeit vorgeführt wird, wäre kaum zu ertragen, wenn man nicht so viel zu tun hätte. In der europäischen und der nordamerikanischen Kultur wurden solche «Bewältigungs-Nächte» längst von der Möglichkeit abgelöst, ganz unkompliziert ein Restaurant oder ein Café damit zu beauftragen, was den Verarbeitungsprozess möglicherweise nur bremst. Diejenigen Kulturen, die ihre Toten drei Tage lang im Haus oder in der Wohnung aufbahren, bevor sie sich von ihnen endgültig trennen, sind darauf angewiesen, in dieser unmittelbaren Nähe zum Jenseits nicht auf sich allein gestellt zu sein. Deshalb versammeln sich die Lebenden in der Küche — die härteren unter ihnen wollen Zwiebeln schneiden, die emotionaleren weinen direkt in den dampfenden Kochtopf, wischen sich die Tränen mit der Schürze weg und schämen sich nicht — sie alle sind schon dabei, es zu verarbeiten und es ist einer der seltenen Momente, in denen sie nicht einsam sind, weil sich keine Einsamkeit der Welt mit der klaren, trockenen Kälte aus dem offenen Sarg im Nachbarzimmer messen kann. Alles ist das pure Leben im Vergleich dazu und die Illusion einer Vereinigung ist in diesem Moment perfekt. Und sie, diese sie, die ich in einer schlaflosen Nacht herbei halluziniert und mit einem Lebenslauf versehen habe, sie steht jedes Wochenende, immer um die selbe Zeit in ihrer Küche und schiesst Pfeffer in die Luft, wie die verrückte Köchin aus «Alice im Wunderland», die ja auch nichts für ihre Depression konnte. Durch die offene Glastür hört sie ihren Mann im Garten mit den Enkeln reden, im Wohnzimmer grölt der Fernseher, eine ihrer Töchter räumt, laut und tollpatschig, den Geschirrspüler aus, die andere sitzt daneben auf dem Stuhl und liest vor, wie die neusten Babies der Stadt genannt wurden. Es ist ein wahnsinniger Lärm und es ist viel zu eng für drei Frauen in einer kleinen Küche und sie glaubt sogar, gestresst zu sein, aber eigentlich ist gerade Waffenstillstand. Erst wenn es still ist, nachdem alle genug gestritten und durcheinander geredet haben, wenn die Enkel, von dem Trubel ganz aufgedreht und rot, erschöpft auf der Couch zusammensacken, wenn auch das gemeinsame Kaffeetrinken und sogar das Abendbrot auch erledigt sind und die Männer nach der Sportschau ihre leeren Bierflaschen in den Keller bringen, wenn alle wie immer auf einmal im Flur drängeln, anstatt nacheinander zu gehen, die müden, quengelnden Kinder anziehen, sich etwas rau und wortreich verabschieden, wenn hinter dem letzten die Tür zugeht und ihr Mann gähnend die knatternde Treppe zum Schlafzimmer steigt, erst dann beginnt der Stress. Sie setzt sich ins leere Wohnzimmer und starrt vor sich hin. Die Geräusche verklingen langsam. Sie möchte die Jalousien runter lassen, kann sich aber nicht überwinden aufzustehen. Die Leere drückt ihr die Luft ab und ein alter Schrei, an dem sie sich vor vielen Jahren verschluckt hat, fängt wieder an, sie von innen zu zerreißen. Er findet kein Ventil und wird zu einem Stein irgendwo zwischen Herz und Magen. Wenn der Mensch einsam ist, dann ist der Mensch mit einem traumatisierenden Background ein Astronaut, dessen Raumschiff explodiert ist. Er treibt, solange seine Sauerstoffreserven nicht aufgebraucht sind, um die schwarzen Löcher herum und entweder er schafft es, seine wegdissoziierte Konzentrationsfähigkeit zu bündeln und den Signalknopf zu betätigen oder er quält sicht ewig in der Schwerelosigkeit, bis er stirbt.
Sie würde wahrscheinlich in den Keller gehen und eine Flasche Wein holen, oder sie geht ins Bad, zieht ihre Hose aus und kratzt an den alten Schnittwunden in den Oberschenkeln bis sie ganz taub werden…aber das alles interessiert mich nicht mehr. Es ist ihre Entscheidung. Bei mir ist es inzwischen hell geworden und ich habe mit ihrer Hilfe die Nacht überstanden. Und jetzt gehe ich mit meinem Hund an die Elbe und sehe nach, ob das Leben da draußen immer noch ruhig und stabil weiter fließt.
Thank you! Your submission has been received!
Oops! Something went wrong while submitting the form