Effi Mora

Mitgefühl im Namen der Männlichkeit

06.05.2016

«Der schlimmste Tag im Jahr» — seufzt mein aktueller Späti-Verkäufer des Vertrauens.
Warum ich mich an so einem Tag überhaupt vor die Tür traue, ist die andere Frage, schließlich leb ich doch schon seit, sage und kreische, 17 Jahren in Deutschland und die ungelenke Prachtblüte geballter deutscher Männlichkeit entfaltet sich jedes Jahr auf die gleiche Art und Weise. Mein Hund hat allerdings protestiert. Kaum waren wir draußen, legte er sich auf den Boden und sagte: «Nee!!! Ohne mich!». Ich musste ihn wieder in die Wohnung tragen, weil er lieber totale Gelähmtheit vortäuscht und seine eigene Zugehörigkeit zur Männerwelt abstreitet, als diesem Spektakel beizuwohnen.
Ich hab mich so umgehört. Offenbar hab ich zur Zeit eine ziemlich unpopuläre Meinung zum Thema «deutsche Männer» — ich mag nämlich die deutschen Männer. Zumindest scheinen sie mir größtenteils normaler und weniger monsterhaft als russische Männer. Bin allerdings auch ein bisschen verwöhnt, weil sich mein erster deutscher Freund einer fabelhaft-robusten psychischen Gesundheit erfreute und somit die Messlatte für das Konzept «Beziehung» ziemlich hoch gelegt hat. (Dieses Konzept ist bei allen unreifen Riesenbabies wie mir ungefähr gleich — kümmere dich um alles, sei mir eine Mutter, aber lass mich, um Himmels Willen, in Ruhe mein skurriles Ding machen. Ja, ich weiß. Nichts, worauf man stolz sein sollte). Ich finde, dass deutsche Männer viele sympathische Eigenschaften haben und irgendwie ist es ja auch niedlich, wie sie an diesem Tag Grüppchen bilden und in den Wald gehen, um sich den ganzen Stress, und den ganzen Druck, und die ganzen Wettkämpfe von der Seele zu brüllen und zu kotzen, bevor sie wieder zu ihren strukturierten Frauen und zu ihren strukturierten Jobs zurück kehren. So komisch das auch klingt, aber viele von ihnen haben wirklich nur diesen einen Tag im Jahr, an dem sie einfach mal zwei Monatsgehälter in Alkohol investieren und ein bisschen Kind sein dürfen. Ein Tag, an dem sie im Springbrunnen einschlafen und keiner, aber auch wirklich keiner, kommt und sagt: «Na pfui, was ist denn das hier?!». Ein Tag, an dem sie ausschließlich von gleichgesinnten anderen Kindern umgeben sind. Und dann wird es wieder hell und die Kutsche verwandelt sich in einen Kürbis. Prost-Mahlzeit, dein Chef hat angerufen, wird nichts mit Ausschlafen.
In meinem Freundeskreis gibt es wohl einige Menschen, die mich wegen dieses Textes auslachen werden. Weil…natürlich sehen diese Typen sowohl gruselig als auch albern aus, wenn sie mit sonnenverbrannten Gesichtern in der Straßenbahn vor sich hin schnarchen und pupsen und ja, viele von ihnen sind um einiges stolzer auf ihr Deutschsein, als ihre tatsächlichen Errungenschaften hierzulande es rechtfertigen, aber das sind definitiv keine Monster. Mit Monstern kenne ich mich leider ziemlich gut aus. Das hier, sind Typen, die frustriert und müde sind. Ich glaub auch nicht daran, dass fremdenfeindliche Tendenzen was typisch deutsches sind. Nee, im Ernst. Da spielen solche Dinge wie Bildungsgrad, persönliche Bereitschaft zur Gewalt, das Vorhandensein eines Fernsehers in der traurigen Plattenbude, individuelle Lebensgeschichte und ja, der Grad der aktuellen Enttäuschung eine viel größere Rolle, und diese sind international. Das weiß ich, weil meine Aufmerksamkeit seit fast zwei Jahrzehnten gleichmäßig auf zwei Länder verteilt ist, die unterschiedlicher nicht sein könnten und vor allem deshalb, weil ich beide von innen beurteile (und das geht nur, wenn man beide Sprachen gleich gut kann, also bedenkt das bei eurem Impuls, mit mir rum zu diskutieren — ich hör’s nämlich schon :)))
«Das ist ein weites Feld, Luise.» — hat mein Schätzchen Theodor Fontane dem Vater von Effi Briest einfach so in den Mund gelegt. Ich ziehe mich hiermit auch so verschnörkelt aus der Affäre, Freunde: «Es ist ein weites Feld.»

P.S. auch witzig, wenn «einige Freunde» von der Autokorrektur in «eineiige Freunde» umgebastelt wird. Ich will auf gar nichts hinaus, ich will nur ein bisschen rumstänkern.

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