Effi Mora

Morpheus’ Arme, Katharsis und die zwei Seiten einer Geschichte.

06.11.2015

Zwischen meinem zwölften und fünfzehnten Lebensjahr führte mein Körper einen ziemlich abartigen Krieg gegen mich. Jeden Abend, pünktlich ab 20 Uhr begann der Magen, sich zusammen zu ziehen und weh zu tun. Durch das Herz zog ein permanenter, eiskalter Luftzug. Ich hatte panische Angst, brechen zu müssen, weil ich dachte, dass ich mich dadurch auflösen würde. Drei Jahre lang musste ich nach Anbruch der Dunkelheit in meinem kleinen Zimmer auf und ab gehen, beide Hände an den Solarplexus gepresst, versuchen, mir irgendwelche angenehmen Belanglosigkeiten vorzustellen und die Panik in den Griff zu kriegen. Sobald ich im Bett lag und die Augen zumachte, generierte mein überreiztes Hirn einen Alptraum nach dem anderen. Zwischendurch wachte ich auf und hatte einige Minuten Zeit, um mich im Zimmer zu orientieren und die Gegenstände abzuscannen, dann ging es sofort weiter mit dem nächsten klebrigen Alptraum. Die beschriebenen Zustände sind Symptome. Und Symptome muss man sich erst leisten können. So paradox es klingt, aber damals konnte ich sie mir tatsächlich leisten. Ich lebte im Haus meiner Großeltern mütterlicherseits. Mein Zimmer war sicher, im Nebenraum schlief ruhig schnaubend meine ewig verschnupfte Kusine und in meinem Bett mehrere Katzen. Ich presste meine Nase gegen den Teppich an der Wand und verankerte mich in der Gegenwart. Der Körper weigerte sich, Etwas, was ihm passiert war, zu verdauen und verschaffte sich Luft, indem er mich nicht schlafen ließ. Später kam ich in eine Lebenssituation, in der es aus evolutionären Gründen nicht mehr möglich war, so geschädigt zu bleiben. Ich musste funktionieren. Besonders nachts, weil andere Menschen im selben Raum schliefen. Diese Menschen hätten wenig Verständnis für solche «Eskapaden» gehabt und ich hätte mir selbst geschadet, wenn ich es nicht in den Griff bekommen hätte. Es ähnelte einerseits einem Gefängnis, aber es lieferte mir die wertvolle Erkenntnis, dass man mit seinem Körper verhandeln kann. Ich befahl ihm, normal zu wirken, damit wir überleben und er gehorchte.
Schlafen ist und bleibt ein schwieriges Thema, aber inzwischen habe ich eine beachtliche Sammlung an Tricks und Methoden, um diesen «Nichtangriffspakt» mit dem eigenen Körper aufrechtzuerhalten. Meistens klappt’s. Hin und wieder kommt mein «inbrünstig geliebter» Serientraum, der immer mit einem Schrei endet. Ich betrachte ihn als Gehirn-Hygiene. Dieser Schrei ist sehr alt. So wie es einen verschleppten, tief sitzenden Husten gibt, so gibt es auch einen verschleppten, tief sitzenden Schrei. Er sucht immer wieder nach Löchern in meinem ach so gut funktionierenden Alltagspanzer und sickert durch. Und dann schreie ich eben.
Und manchmal kriege ich Traum-Geschenke — großartige ätherische Konstrukte aus tollen Farben und Formen. Sie sind nie optimistisch oder hell. Eher verwirrend und komplex, aber sie enthalten eine ganz tiefe Harmonie. Wenn ich einen solchen Traum-Geschenk träume, fühle ich wie alles miteinander verbunden ist, und dass in der Schwere ganz viel Leichtigkeit liegt. Dann weiss ich, ein Drama ist nicht zwangsläufig unerträglich, man muss es nur als zum Leben dazu gehörend akzeptieren, dann entfaltet es seine morbide Schönheit. Dann hört man seine Musik.
Einmal träumte ich von einer Frau, die offenbar gezwungen wurde, sich in die Mitte des Raumes zu stellen. Ich begriff, dass sie gerade von den anderen für etwas bestraft wird. Man durfte nicht zu ihr gehen und sie schon gar nicht anfassen. Der Sinn dieser Bestrafung wurde nicht erklärt, aber alles fühlte sich ganz schwer an. Ich erinnere mich an meinen Gedanken, dass es für sie sicher leichter gewesen wäre, wenn sie sich hätte vor den Anderen einfach ausziehen müssen. Dann wäre es konkreter, greifbarer. Das Grauen hätte eine klare Form. Und so war das eine Erniedrigung, die Jeder spürte, aber nicht in Worte fassen konnte. Sie stand eben da und Niemand durfte zu ihr. Ungewissheit ist oft quälend und noch quälender ist die Unmöglichkeit, Etwas sprachlich auszudrücken. Viele Details sind weg, der Traum ist schon etwas älter. Aber ich stand irgendwann vor ihr und fasste ihr Gesicht an. Ich wollte sie streicheln, aber meine Hände waren wie aus Watte und ließen sich nicht gut lenken, weshalb meine Bewegungen eher unfreundlich wirkten. Ich begann zu weinen. Presste meinen Kopf gegen ihre Schulter und weinte. Es war einer von diesen Träumen, die einen noch lange emotional verfolgen. Man nimmt die Atmosphäre des Traums mit ins Wachsein und versucht sie dort kognitiv zu entschlüsseln. Mir schien die ganze Zeit, als fehlte irgendein sehr wichtiges Detail. Als müsste ich eine Scherbe oder einen Bauklotz hinzufügen, um zu verstehen, warum mir das gezeigt wurde und warum ich dort so gut, so befreiend und erleichternd weinen durfte.
Heute habe ich das passende Stück dazu gefunden. Den Schlüssel… In den 70ern hatte die Großmutter der Performance-Kunst — Marina Abramovic ein ziemlich schräges Experiment gemacht. Sie stand still und regungslos in einem Galerieraum, die Besucher durften mit ihr machen, was sie wollten, wahlweise sogar mit Hilfe diverser Gegenstände, die daneben auf dem Tisch lagen. Manche dieser Gegenstände waren harmlos, etwa eine Feder, Aquarellfarben, Öl, Nahrungsmittel, aber es waren auch eine geladene Pistole, ein Hammer und Schneidewerkzeug dabei. Anfangs wollten die Besucher nur spielen, doch je länger die Performance dauerte, desto aggressiver wurde die Stimmung. Sie zogen sie aus, piksten ihr in die Haut mit Sicherheitsnadeln, schnitten ihr Haarsträhnen ab, schnitten ihr in den Hals, versuchten, ihr Blut zu trinken. Zum Schluss klebten sie ein Pflaster auf die Wunde. Als sie nach der Performance im Hotel ankam, hatte sie graue Strähnen im Haar.

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1974 war das. Neun Jahre vor meiner Geburt. Ich habe heute zum ersten Mal davon gelesen und es gleich als die fehlende «Scherbe» meines Traums identifiziert. Wahrscheinlich musste ich erst andere Dinge verstehen, Fehler machen, überm Abgrund balancieren, mir professionelle Hilfe suchen und sie auch annehmen, bevor das Bild sich vervollständigen durfte. Ich weiß es jetzt. Es ist ganz einfach:

 
1. Natürlich kann man das Schicksal herausfordern. Natürlich kann man sich in einer Galerie als Objekt zu Verfügung stellen oder sich morgens um vier in den Gegenden aufhalten, die man nicht mal tagsüber betreten sollte, einen mitternächtlichen Waldspaziergang machen, einem unberechenbaren Junkie mit einem Aggressionsproblem seine unfreundliche Meinung entgegen kreischen, sturzbetrunken zum Job gehen, bei dem man mit offenem Feuer und scharfen Messern hantiert oder sich selbst jemandem ausliefern, einfach um zu sehen, ob man draufgeht oder nicht. Aber…tu’s einfach nicht. Lass es sein. Die Sache mit der Versuchung ist mindestens so alt wie die Bibel. Und der Trick an der Versuchung ist — dass sie Jemand bezahlen muss. Einer, dem du dich auslieferst, einer, dem du selbst das Gefühl gibst, es geht ALLES und es folgen keine Konsequenzen, weil es niemanden gibt, der auf dich aufpasst, müsste schon zumindest gut erzogen sein, um dieses Angebot abzulehnen (gemeint sind natürlich die, die bereits Interesse an dir haben). Das Böse ist verlockend, der Dreck ist verlockend, Horrorfilme scheinen auch verdammt verlockend zu sein. Es dauert nur wenige Wochen, bis die Verkäuferin eines Erotik-Fachgeschäfts, deren Aufgabe es ist, die ausleihbaren Pornofilme jeder Sparte zu sichten und auf eventuelle Kratzer zu überprüfen, selbst die krassesten unter ihnen (diese asiatischen Foltervideos, die weitaus krasser sind als alles was mit körperlichen Ausscheidungen zu tun hat) ganz routiniert und völlig unberührt anschaut und eigentlich nur noch in Kategorien denkt. Die Menschen können schneller abstumpfen als ihnen lieb ist. Also führe einfach niemanden in Versuchung, fordere das Schicksal nicht heraus, sei vorsichtig und kümmere dich selbst um dich, sei dir selbst deine eigene Mutter. Bringe dir Manieren und das Stricken bei. Versuche Normalität auszuhalten.

 

2. Alles besteht aus derselben Materie und ist miteinander verbunden. Aus dem riesigen Pool der Informationen darf sich Jeder das raus picken, was er gerade benötigt und manchmal finden die Ereignisse gleichzeitig statt, die eigentlich Jahrzehnte auseinander liegen. Man braucht nur die Hand auszustrecken — es ist alles schon da.

 

3. «Leid veredelt die Seele» — sagen manche russischen Männer zu ihren Frauen, kurz bevor sie sie verlassen. Ich würde einem Mann nach so einem Spruch, glaub ich, erstmal den Bart anzünden, aber der Witz ist: genau das habe ich bei der letzen Trennung auch zu jemandem gesagt. Weil es einfach stimmt. Man versteht es natürlich nicht, während man sich noch im Epizentrum des Leidens befindet, aber wenn man alles richtig macht und die frei gewordene Energie in die richtigen Bahnen lenkt, gewinnt man was ganz wertvolles — eine auf Erfahrung basierende Freiheit. Denn hast du’s einmal bewusst durchlebt, kommt es so, in dieser Form nicht noch mal zurück.

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