Ich las soeben bei meiner Lieblingsbloggerin (eine herrliche Lady aus St. Petersburg, die Deutsch unterrichtet und eine sympathische Mischung aus Weisheit und etwas derberem Humor in sich vereint. Hier, für die, die Russisch können: Malka Lorenz) den Hilfeschrei einer jungen Mutter. Diese junge Mutter schilderte der bekannten Bloggerin ihre Situation: sie werde permanent von wildfremden Verrückten mit gut gemeinten Ratschlägen zugeklatscht, was sie denn bei ihrem Kind endlich richtig machen soll. Da die junge Mutter eine sehr entspannte junge Mutter ist und ihre Kids auch mal durch Pfützen laufen lässt und keine Zustände bekommt, wenn ihr Sprössling bäuchlings in einen Teich fällt, sondern ihn in aller Ruhe da wieder raus zieht und zuhause einfach in trockene Kleidung steckt, ist sie quasi ein gefundenes Fressen für allerlei Spinnerinnen, die sich gern damit trösten, alles über Kindererziehung zu wissen, wobei ihre eigenen Gören wenn schon nicht im Knast sitzen, dann aber auf irgendeine andere Art total unglücklich sind. Nachdem eine solche Furie die junge Mutter beim Spaziergang attackiert hatte und ihr sogar drohte die Polizei zu rufen, wenn sie ihr in den Teich gefallenes Kind nicht auf der Stelle ins Heim bringt, wo es ihm sicherlich besser gehen würde als zuhause, bekam die sonst recht entspannte junge Mutter eine unkuschelige Paranoia, welche ihre Lebensqualität massiv verschlechterte, da sie nun hinter jedem Gebüsch eine Verrückte mit empor gestrecktem Smartphone vermutete, die ihr mit solchem «Beweismaterial» ganz konkret schaden könnte. O.k. sei erstmal dahin gestellt, dass solche Gestalten auch in Deutschland leben und dieses Problem an sich international ist. Dennoch gibt es ähm kulturelle Unterschiede und ich behaupte einfach mal aus meiner Erfahrung heraus, dass das Thema «persönliche Grenzen» in Russland sogar noch unbeleuchteter ist als hier. Erst jetzt erwacht dort so langsam das Bewusstsein dafür, dass es möglicherweise kein Zeichen einer sich bis ins Universum ausdehnenden Seele ist, wenn man seine berufstätigen Freunde spontan, nach 23 Uhr, ohne vorherigen Anruf besuchen kommt und als Argument eine Flasche Whiskey und ein «Ach, sei doch mal nicht so ein Langweiler, komm wir reden bissl über Gott und die Welt» bringt, sondern viel mehr ein Zeichen für furchtbar schlechte persönliche Grenzen und eine robust-egozentrische Weltanschauung. So gaaaanz langsam breitet sich auch dort das vage Gerücht aus, dass ungebetene Ratschläge von oben herab, Kritik, nach der keiner gefragt hat oder gar explizites Einmischen in private Angelegenheiten eine ziemlich aggressive Sache sind und mehr über den Kritisierenden/sich Einmischenden aussagen als über das attackierte Objekt. Russland ist eben sehr weit….sehr sehr weit…grenzenlos weit. Und hat eine lange Tradition des Aufeinanderhockens in engen Kommunalwohnungen und der allgegenwärtigen Idee, Privatsphäre sei so ein beklopptes, schlecht verdauliches Luxusgut. Jedenfalls bekam die junge Mutter von der bekannten Bloggerin eine chirurgisch präzise Antwort auf ihre Frage. Man muss für den Anfang etwas wichtiges begreifen, schrieb die Bloggerin. Es geht weder um die Mutter noch um ihre Kinder. Diesen Menschen ist es im Prinzip völlig egal aus welchen nebulösen Gründen sie ihrer Umwelt auf die Pelle rücken. Was sie suchen, ist jenes kostenlose Vergnügen, einem Anderen Angst zu machen/weh zu tun ohne dabei eins auf den Deckel zu kriegen. Mütter liefern meistens die nahrhafteste Reaktion, da sie sowieso ständig Angst um ihre Kinder haben und zum «Eins-auf-den-Deckel-geben» haben sie einfach keine Hand frei und auch gar keine Zeit. Die Bloggerin selbst tat in solchen Situationen Folgendes — allmählich die Stimme hebend sagte sie:»Sie sind betrunken! Gehen sie weg von meinem Kind! Eine betrunkene Frau belästigt mein Kind! Eine betrunkene Frau will mein Kind kidnappen!». Sobald sich die ersten Passanten umdrehten, löste sich die Nervensäge in Luft auf. Ich hätte beinah applaudiert. Natürlich! Es ist so einfach. Mag sein, dass diese Methode auf den ersten Blick etwas überzogen bzw. etwas sehr theatralisch erscheint, aber es ist die perfekte Symmetrie! Die ungebetene Attacke und eine solche Reaktion sind absolut gleichwertig. Feuer mit Feuer bekämpfen. Neurotisch auf die Neurose des Anderen antworten. Argumente und Erklärungsversuche wirken nur bei Menschen, die einigermaßen intakte persönliche Grenzen haben. Bei allen anderen hilft Hyperbolisierung.
Ich bin zum Beispiel sehr beliebt bei grantigen älteren Herren mit Ledermützen. Bei denjenigen von ihnen, die, wenn sie einem im Bus gegenüber sitzen, ein Bein lang strecken, damit der Furz besser entweicht. Diese haben paradoxerweise einen überdurchschnittlichen Sinn für Ordnung und Sauberkeit, weshalb sie mich öfter ziemlich aggressiv von der Seite volldominieren. Rein formal geht es dabei um meinen Hund und die theoretisch mögliche Verschmutzung der Straße durch seine Exkremente. Rein formal, wie gesagt. Immer wenn ich versucht habe, sachlich zu argumentieren, bin ich gescheitert. Die sinnlosen Tiraden hielten ewig an und ich wurde einfach nicht gehört. Dabei ist mein Hund absolut harmlos, sozial verträglich, kackt quasi direkt in die Tüte, zahlt Steuern (kein Witz) und ist rundum haftpflichtversichert. Es hat sie deshalb nicht interessiert, weil es ihnen überhaupt nicht darum ging. Es ging um chronische Langeweile und akute Unzufriedenheit, darum, dass der eigene Körper immer mehr Schwachstellen bekommt, um die ewigen Bohneneintöpfe und die Enkelkinder, die sich nie melden, weil man nun mal ein unangenehmer alter Sack ist, von dem keiner was lernen kann. Und es ging darum, dass ich ein rundes Pfannkuchengesicht mit weit aufgerissenen, naiven Kuhaugen und keine besonders guten Grenzen habe. Es ist witzig, aber erstaunlich viele fremde Männer halten mich für ein unerfahrenes pummeliges Dummchen, das blind durch die Welt stolpert und auf einen Mentor wartet, der ihm endlich sagt, wo es lang geht. Seit ich mich jedoch intensiv mit dem Thema Grenzen beschäftige, bin ich sehr empfindlich geworden für diese Art vom frustrierten Zuquatschen und einige Male reagierte ich sogar intuitiv in der oben beschriebenen Weise. Es genügte tatsächlich ein «Hören Sie auf, mich zu belästigen! Sie alter Perversling, ich bin 60 Jahre jünger als Sie!» und einmal sogar ein «Ach sind Sie nicht einer von denen, die hier ständig Giftköder und mit Rasierklingen präparierte Würstchen auf den Wiesen verteilen? Ich glaube, ich hab Sie wieder erkannt. Das ist nämlich bewusste Sachbeschädigung und ist nach den deutschen Gesetzen strafbar.», und sie trotteten enttäuscht meckernd und ungefüttert ihres Weges.
Ja, man wird eher gehört, wenn man mit den Menschen in ihrer Sprache kommuniziert. So einfach ist das.
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